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Ein Kessel Buntes – Der Zaubertrank namens „Bildung“

Alle Probleme werden auf ihr Fehlen zurückgeführt. Alle Zukunftvisionen benutzen sie als Grundlage. Bildung scheint DAS Allheilmittel unserer Zeit zu sein.


Kommentar Bildung

Spätestens seit Immanuel Kant seinen markigen Spruch: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ zu Papier gebracht hat, strebt das Bürgertum nach Bildung. Getreu dem einfachen Motto: „Bilde dich und du schreitest in deiner persönlichen Entwicklung voran“, sollte damit nicht nur der oder die Einzelne vorangebracht werden, sondern auch die gesamte Gesellschaft. Getragen vom Fortschrittsglauben westlicher Prägung wird einfach alles besser, wenn der Mensch nur gebildet ist und ist der Mensch erstmal gebildet, geht der tolle Trend nach vorne doppelt so schnell weiter. Hier jagt der Hund seinen eigenen Schwanz und der Mensch westlicher Haltung sein eigenes Schattenideal.
Später wurde das dann auch eins zu eins auf die Arbeiter/innen übertragen. Volkshochschulen, aber auch Teile der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit haben in den letzten Jahren immer öfter ihre kritische Position zu „Arbeit“ und „Kapitalismus“ zu Gunsten einer Optimierung der Selbstvermarktung aufgegeben. Plötzlich galt auch hier das Motto der persönlichen Weiterentwicklung zur Erreichung persönlicher Ziele in der Arbeitswelt. Nicht das System „Arbeit“ bzw. das System „Kapitalismus“ als Ganzes wird mehr hinterfragt, sondern nur der Teilaspekte der so genannten „Bildungsferne“ und „Bildungsnähe“. Fortgesetzt hat sich dieser Prozess auch in den klassischsten Anstalten der formalen Bildung: den Schulen und Hochschulen. Diese müssen heute immer öfter Partnerschaften mit der Wirtschaft eingehen, um ihre Bildungsarbeit zu finanzieren. Dass die Wirtschaft dadurch größeren Einfluss auf eigentlich autonome Bildungs- und Forschungseinrichtungen bekommt, kann hier nur eine Randbemerkung sein.

artikel/kommerziell_gr.jpgNachdem Bildung zunehmend zu einem Wirtschaftsfaktor geworden ist, entwickelte Bildungswissenschaftler/innen und Bildungspolitiker/innen Europäischen Gemeinschaft in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts das Konzept des „Lebenslangen Lernens“. Das klang erstmal nach einem ziemlich guten Vorschlag, der wohl eigentlich jedem Menschen gefallen dürfte. Wer hat schon etwas gegen Bildung, aus der persönliche Bereicherung erwächst? Eben, niemand! Also noch schnell ein paar Wörter wie informelle und non-formale Bildung hinzugefügt und schon ist der Fortschrittszaubertrank angerührt. Mit diesem kann unsere Gesellschaft höher springen, schneller rennen und weiter laufen.
Doch höher, schneller, weiter sind schon lange keine akzeptablen Faktoren positiver gesellschaftlicher Entwicklung mehr. Und eine Idee wie das Lebenslange Lernen kann sich in diesem Zusammenhang schnell in eine Strafe á la Lebenslängliches Lernen verwandeln.

Das Lebenslange Lernen beinhaltet durchaus Aspekte, die es wert sind diskutiert zu werden. Zum Beispiel, die Bildung aus den verstaubten Schulbänken und Hörsälen zu befreien und sie dorthin zu verlegen wo sie hingehört: Auf die Straßen, in die Parkanlagen, in die Münder unserer Jüngsten und in die Köpfe unserer Ältesten, einfach in die Hände aller Menschen. Gleichzeitig werden damit die starren Grenzen von Lehrenden und Lernenden aufgehoben. Und nicht zuletzt wird die Bildung endlich als der ganzheitliche Ansatz wahrgenommen, der sie ist. Denn der Mensch lernt nicht nur in Workshops, Lehrgängen und Vorträgen. Nein, selbst der Kauf einer Fahrkarte ist ein Lernprozess. Denn neben dem Erwerb einer Fahrkarte lernt die Käufer/in auch gleichzeitig die Bedienung eines Fahrkartenautomaten, im besten Fall schult er/sie sogar kommunikativen Fähigkeiten, in dem andere Menschen um Hilfe gebeten werden. Es war seit langem überfällig die Bildung aus diesem engen Gefängnis zu befreien und zu erkennen, dass sie uns allgegenwärtig ist.
Wenn wir die Bildung jetzt noch auf T-Shirts drucken können, haben wir mit dem Lebenslangen Lernen den Stein der Weisen in der Hand. Die Menschen bilden sich und die Wirtschaft verdient mit dem Verkauf der Shirts an einer guten Idee mit. Aber leider wird Bildung nicht auf T-Shirts gedruckt, jedenfalls noch nicht im großen Maßstab. Deswegen hat sich die Wirtschaft etwas anderes ausgedacht, um mitmischen zu dürfen. Unzählige Richtlinien, Zertifikate und Gütesiegel später weiß die angehende Bildungsbürgerin nun gar nicht mehr welche Fort- und Weiterbildungsmaßnahme für sie geeignet ist. Aber auch das ist nur kleiner Wermutstropfen in unserem großen Fortschrittszaubertrank. Denn das, was uns allen demnächst wirklich auf die Füße fallen wird, ist etwas ganz anderes. Das ist die kommerzielle Verwertbarkeit des Lebenslanges-Lernen-Konzepts. Inzwischen hat auch die Wirtschaft erkannt welches Potential in diesem Konzept steckt. Jetzt wo sich die Arbeitnehmer/innen selbst um ihre Fortbildung kümmern müssen, können sich die Arbeitgeber/innen darauf konzentrieren, dass auch das gelernt wird, was sich für das Unternehmen auszahlt. So müssen sich Arbeitnehmer/innen bei ihrem Fortbildungswunsch mit ihrer Arbeitergeber/innen auseinandersetzen und diesen an die Wünsche und Bedürfnisse des Unternehmens anpassen. Das führt nicht nur inhaltlich zu einem äußerst zweifelhaften Konvergenzmodell. Auch bei Zeit und Geld wird vermehrt auf eine Zweiteilung gesetzt und so wirkt die Arbeitgeberin zusehends in den ehemals privaten Freizeitbereich.
Parallel zu diesen Entwicklungen wurden zahlreiche neue Zertifizierungsprozesse eingeführt. Inzwischen gibt es für fast jede Tätigkeit einen sprachlich-verschlüsselten Fachbegriff, der mindestens als „Kompetenz“, meist jedoch sogar als „Schlüsselkompetenz“ ausgewiesen wird. So wird beispielsweise eine gesunde Lebensführung zu einer der fünf, von Dieter Mertens definierten Schlüsselkompetenzen, namens „Selbstkompetenz“. Nun, auch das wäre noch akzeptabel, wenn die Menschen einen gelungenen Zwischenweg zwischen karriereorientierter und persönlicher Weiterbildung finden würden und wenn der einzelne Mensch auch die Möglichkeit hätte, sich diesem Fortbildungsdruck zu entziehen.

Für die Erziehungswissenschaftlerin Daniela Holzer, vollzieht sich dieser Fortbildungsdruck in drei Phasen:

1. Phase: Du sollst lebenslang lernen
2. Phase: Du musst lebenslang lernen
3. Phase: Du willst lebenslang lernen


Die erste Phase liegt bereits hinter uns. Denn von den meisten Menschen im Berufsleben wird bereits heute erwartet, dass sie sich ständig fortbilden. Dabei steht jedoch selten die persönliche Weiterentwicklung im Zentrum des Fortbildungsgedanken, sondern vielmehr die ökonomische Verwertbarkeit für die Arbeitgeber/innen. Problematischer wird jedoch die zu erwartende dritte Phase dieser Entwicklung: der Mensch nicht mehr die Möglichkeit hat, sich dem eigenen Fortbildungstrieb zu entziehen. Der Zwang wird dadurch verinnerlicht und von den meisten Menschen nicht mehr als Zwang wahrgenommen. Damit geht ein wichtiger Teil der Selbstbestimmung verloren.

Was wäre also ein akzeptabler Weg?

Bildung ist wichtig: Sowohl für die Gesellschaft im Ganzen, als auch für das Individuum. Doch eine Gemeinschaft muss es auch aushalten können, wenn sich Menschen dem Fortbildungsdruck der modernen Gesellschaft entziehen oder ihm bewusst entgegenwirken. Verweigerungshaltungen im Lernprozess, beispielsweise das Schwatzen im Unterricht, sind also nicht zwingend Respektlosigkeit vor der Lehrenden, sondern mitunter ein unterbewusster Protest gegen das strenge gesellschaftliche Umfeld, welches den Lernprozess aufzwingt. Bildung muss wieder aus dem ökonomischen Verwertungszyklus befreit werden. Hiermit ist jedoch nicht die Dämonisierung der Arbeitgeber/innen gemeint, die ihren Arbeitnehmer/innen Weiterbildungsmodelle zur Verfügung stellen, sondern ein gesamtgesellschaftliches Infragestellen des kapitalistischen Wertesystems, dass sich zusehends auch in den informelle und non-formale Bildungssektor drängt. Hier ist eine kritische Bildung gefragt, die Menschen befähigt, ein kritisches Verhältnis zu den gesellschaftlichen Realitäten zu entwickeln. Und wir müssen Abstand nehmen von der Vorstellung, dass sich immer alles zum Besseren entwickelt. Bildung ist ein Kessel Buntes, der für fast jeden Menschen etwas bereithält, doch ist es wichtig das Richtige zu finden. Und genauso wichtig ist es, sich selbst Freiräume zu schaffen, in denen das Aussetzen des Lernprozesses eine akzeptable und gesellschaftlich legitimierte Stellung hat.
Erst dann können wir uns ruhigen Gewissens in den Kessel mit Bildungszaubertrank fallen lassen und wie Obelix unser Leben lang von ihm zehren.

erschienen im "hEFt - für Literatur, Stadt und Alltag" #21 juli 2010


Kaffeesatz-Redaktion
02.07.2010

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