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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Russland -

Manchmal versteigt sich der Weltgeist in seltsame Wände. Ungefähr zwei Wochen dauerte das Seil­ziehen um den humanitären Konvoi, den der Russe in das Kriegsgebiet der Ostukraine entsandt hatte.


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artikel/Aus neutraler Sicht/J_KW_35_200px.pngDie ukrainische Regierung äußerte vorsichtshalber den Verdacht, dass zwischen den Kon­dens­milch-Tuben auch Handgranaten versteckt sein könnten, unter den Zeltplanen vielleicht Jagd­flug­zeuge, was weiß ich, ganz als ob es Russland nötig hätte, seine militärische Unterstützung für die ukrainischen Separatisten wie in schlechten Spionage­romanen vor aller Augen ins Land zu schmuggeln, wo die Jungs doch absolut freien Zugang haben und allerlei Gerät wie zum Beispiel Luftabwehrbatterien nach Lugansk bringen, mit denen dann irgend ein Separatistentrottel ein Zivil­flug­zeug abschießt. Nein, mein Herr, bei aller Liebe für schlechte Schmieren­ko­mö­dien, das hier war bloß doppeltes Welttheater, eine Vorstellung für die westliche Öffentlichkeit zum einen, eine zweite für die russische Öffentlichkeit. Zwei Kilometer lang soll der Konvoi gewesen sein, das ist natürlich ein starkes Bild und ein neuer Maßstab für die humanitäre Hilfe, die wird in Zukunft wie das männ­li­che Geschlechtsorgan nach Länge gemessen, hier in Kilometern, da kann das rote Kreuz mit sei­nen zehn Zentimetern Flügellänge einpacken.

Zwei Kilometer Humanität, ja, auch das kann der Russe, so, wie er die olympischen Winterspiele in einem Badeort am Schwarzen Meer organisieren kann, alles klar, die Botschaft haben wir ver­stan­den, aber nicht begriffen: Was soll das? – Und die Antwort lautet: Ihr braucht das nicht zu be­grei­fen, all das ist für den internen Gebrauch. Und wenn man das nicht kapiert, dann hat man auch nicht verstanden, worum es in der Ukraine an der Grenze zu Russland geht beziehungsweise in Russland an der Grenze zur Ukraine.

Die russische Gesellschaft ist in mehrerer Beziehung fragil. Seit dem Kollaps der sowjetischen Strukturen weiß niemand so richtig, wo es lang gehen soll. Viele Komponenten, die einen Na­tio­nal­staat überhaupt ausmachen, sind geschwächt – zum Beispiel die gesamte, Identität stiftende Mytho­logie, inklusive Geschichtsschreibung – oder noch nicht richtig entwickelt. Das Spiel der Interessen hat in einem derart riesigen Reich sowieso einen völlig anderen Charakter als im kleinräumigen Europa: es ist kaum zu überblicken, geschweige denn in einem anständigen Gleichgewicht zu hal­ten. Die Gewalt im Staat stützt sich in der Regel auf die Überreste der sowjetischen Administration ab, die schon früher gewisse feudale Strukturen entwickelt hatte, je nach geografischer und sozialer Lage im Land. Für unsere Begriffe ist dabei von großer Bedeutung, dass es in diesem Inter­es­sens­spiel einen Faktor gar nicht erst gibt: das Volk, nämlich. Die Revolution hat bekanntlich das Pro­le­ta­riat bzw. die Arbeiter und Bauern an die Macht gebracht – die Frauen haben es praktisch nie in die oberen Führungsetagen geschafft –, dementsprechend brauchte es sich in der Folge nicht mehr politisch zu artikulieren. Gleichzeitig ist der Großteil der Bevölkerung durch Kollektivierung und Industrialisierung aus den dörflichen Strukturen des 19. Jahrhunderts in neue, in der Regel städti­sche Organisationsformen überführt worden, wenn man einmal von den Gebieten im Süden und Südosten absieht, wo Clans und Familien nach wie vor eine wichtige Rolle spielen.

Die Interessensgruppen machen sich breit, so gut es eben geht, von der Geld-Oligarchie über die Kir­che und die regional-nationalen Organisationen bis hin zum Militär, das man eigentlich in erster Linie erwähnen müsste, denn die russische Armee ist im Moment zwar weitgehend stillgelegt, aber sie verfügt nach wie vor über das zweitgrößte Atomwaffenarsenal der Welt, und angesichts dieser Tatsache allein ist es absolut und unumstößlich einsichtig, dass in Russland zunächst einmal vor allem Stabilität auf der Tagesordnung steht. – Hier übrigens die Erinnerung an die US-ameri­ka­ni­sche Militärdoktrin, über die gegenwärtig so munter gestritten wird, nämlich dass die USA in der Lage sein müssten, weltweit jederzeit zweieinhalb Kriege zu führen – man vergleiche dies einmal mit den russischen Streitkräften, welche den US-Amerikanern bis vor fünfundzwanzig Jahren durchaus das Wasser reichen konnten und jetzt grad mal in die Krim einmarschiert sind, und wenn man diese, an und für sich völlig unbedeutenden Bereinigungen im Grenzbereich Russlands aus vollem Hals kritisiert, was müsste man dann im Gegenzug zu den US-Amerikanern sagen? – Aber abgesehen davon: Zur Stabilität gehört auch, dass die internationale Gemeinschaft und insonderheit die US-Amerikaner und die Europäerinnen jene Zusagen einhalten, die gegenüber früheren und gegenwärtigen sowjetischen und russischen Regierungen gemacht wurden bezüglich Macht- und Einflusssphären; denn wenn man solche Zusagen plötzlich vergisst, weil sich ja alles geändert hat, und wenn man versucht, Russlands Hinter- oder Vorhöfe mit irgendwelchen Versprechungen über den Tisch zu ziehen, dann wird es nun mal einfach brenzlig. Nicht unbedingt, weil die russischen Inter­essen davon im Kern betroffen wären; es geht vielmehr darum, dass man Russland damit im In­ne­ren destabilisiert, dass man nationalistische und revisionistische Kräfte stärkt, die gewisse Leute auch sowjetfaschistisch nennen. Die Schwächung des aktuellen Machtgefüges bedeutet die Stärkung irgendwelcher anderer Gruppen, egal, ob es sich um nationalistische Parteien oder um separatistische Bewegungen handelt. Dies ist der Punkt, der nie aus- oder angesprochen wird, wenn man Putin und seinen Kolleginnen und Kollegen die verschiedensten Verstöße gegen Demokratie und meinetwegen auch internationales Recht vorhält. Solange man aber konsequent unterlässt, auf die innenpolitische russische Dimension solcher Ereignisse zu verweisen, solange betreibt man eben selber Propaganda.

Ich sage dies nicht, um irgendwelche Vorfälle oder Verhältnisse in Russland zu entschuldigen, von Pussy Riot, dem sicher unbedeutendsten Ereignis, über den Schauprozess gegen Chodorkowski und Konsorten bis hin zur Ermordung von Anna Politowskaja, oder auch den Tschetschenienkrieg, die Rechtsunsicherheiten für Auslandinvestitionen, die Bohrprojekte in der Arktis und so weiter und so fort, und zu allerletzt möchte ich irgendein gutes Haar an den Separatisten in der Ostukraine lassen, die heute offensichtlich von russischer Unterstützung leben und verantwortlich sind für den Krieg, der dort tobt. Die russische Unterstützung selber scheint mir ziemlich bescheuert, nicht zuletzt deswegen, weil der Generalstab oder vielmehr die russische Regierung offensichtlich selber nicht so recht wissen, was sie wollen, aber das ist auch nicht so wichtig.

Ebenso wenig wichtig ist, ob die Ukraine seit jeher die Getreidekammer Russlands war oder nicht, obwohl historische Bezüge und Bindungen als Teil der Mythologie gewiss ihre Bedeutung haben; im Moment sehen wir aber erneut nicht irgendeine Volksbewegung, noch nicht mal jene vom Maidan-Platz, sondern wir sehen eine Auseinandersetzung zwischen Oligarchen, welche ihre Millionen und Milliarden im Geschäft mit dem Westen machen möchten oder bereits gemacht haben, zum Beispiel Frau Timoschenko, und jenen Oligarchen, welche ihre Millionen und Milliarden im Geschäft mit Russland machen möchten oder bereits gemacht haben, wie zum Beispiel Janukowitsch, zur Erinnerung: der rechtmäßig gewählte Präsident der Ukraine, welchen die Westler aus dem Amt geputscht haben, ohne dass die öffentliche Meinung im Westen auch nur ein Gran an Empörung aufgebracht hat gegen diesen Verstoß gegen geltendes Recht. Aber dies nur zur Erinnerung.

Tatsache ist nur, dass auch in der Ukraine so wenig das Volk als eigenständiger Akteur auftritt wie in Russland selber. Es geht um ein Tauziehen zwischen zwei Tendenzen innerhalb der nationalen Oligarchie. Aber die Art und Weise, wie der Westen seine gesamte emotionale Energie für all die heiligen Apostel der westlichen Werte mobilisiert, finde ich schon ziemlich bescheuert. Genau das ist es doch, was die Russen in ihrem Urteil bestätigt, dass man sie seit 25 Jahren andauernd über den Tisch zieht. Und, damit dies mal klar gesagt ist: Die Russen haben Recht mit ihrem Urteil.

Es ist völlig absurd, in Unkenntnis sämtlicher Kräfteverhältnisse ausgerechnet von einem Land wie die Ukraine westliche Standards einzufordern beziehungsweise Bewegungen zu unterstützen, wel­che solche Standards angeblich einführen wollen. Das geht nun mal einfach nicht. In dieser Bezie­hung befindet sich die Ukraine sogar noch in einem Stadium vor jenem, in welches Bulgarien und Rumänien heute eingetreten sind, nämlich die Phase der umfassenden Korruption, der anhaltenden Machtkämpfe, der Verschleuderung von Geldern der Europäischen Union und so weiter und so fort. Wichtig aber ist, dass der Deal vor 25 Jahren eben nicht die Ukraine, sondern Polen, Rumänien und Bulgarien umfasste. Wenn die EU nun den prowestlichen Milliardären in der Ukraine schöne Augen macht, dann macht sie einen Fehler, der in erster Linie das Verhältnis zu Russland auf Jahre hinaus beeinträchtigt.

Dabei wäre dies doch die interessante Option. Russland, die Regierung, die Wirtschaft und Wla­di­mir Putin selber wissen doch ganz genau, dass sie von vernünftigen Wirtschaftsbeziehungen mit dem Westen am meisten profitieren würden – und umgekehrt würde auch die EU am besten fahren mit der Normalisierung der Wirtschaftsbeziehungen, wie man sie eine Zeitlang bereits zu beob­ach­ten meinte. Aus der Normalisierung des Warentausches kommt relativ bald auch der Austausch unter den Menschen in Gang. Wenn in Russland der Lebensstandard nicht nur der Oligarchen und Milliardäre, sondern der breiten Bevölkerung steigt, dann ist mindestens eine treibende Kraft der Demokratie gestärkt, nämlich jene, welche einfache Menschen, egal, ob Proletarierinnen oder Bäuerinnen oder Sozialhilfebezügerinnen, in Konsumentinnen verwandelt. Ich habe an dieser Stelle verschiedentlich darauf hingewiesen, dass nur eine moderne Konsumentin ein echtes Mitglied einer modernen westlichen Demokratie sein kann; unterstellt habe ich dabei immer gleichzeitig, dass noch ein weiter Weg zu gehen sei bis zu einer richtigen Demokratie, in welcher dann tatsächlich alle die gleichen Voraussetzungen, den gleichen Wissensstand und die gleichen Einfluss­mög­lich­keiten haben. Aber das ist ein anderes Kapitel.

Jedenfalls kann der Weg zur Modernisierung in erster Linie Russlands durch die Entwicklung des Ost-West-Handels sicher nicht über die klammheimliche Annexion der Ukraine durch die EU führen. Dass solche Überlegungen nicht zu einer klaren Distanzierung geführt haben, dass stattdessen die Öffentlichkeit Partei ergreift für eine Partei, die um keinen Deut besser ist als die Gegenpartei, dass sie dies sogar im Namen des Rechts tut, welches diese Partei eben erst gebrochen hat, all das spricht nicht für die Öffentlichkeit in der EU. In diesem Fall müsste man sogar hoffen, dass wenigstens die EU-Spitze ein doppeltes Spiel treibt, woran ich eigentlich auch nicht zweifle. Aber vorderhand bringt offensichtlich niemand den Mut auf, die Dinge beim Namen zu nennen. Nebenbei ist eine lustige Folge dieser Sachlage jene, dass die Ukraine, welche bekanntlich schon seit Jahren praktisch bankrott ist, ausgeplündert von den Blutsaugern um Timoschenko ebenso gut wie um Janukowitsch, dass diese bankrotte Ukraine beziehungsweise der jeweils an der Macht sich befindliche Klüngel von der internationalen Staatengemeinschaft grenzenlos Knete hinterher geworfen erhält, solange die Konflikte in der Ostukraine anhalten. Wie schon in der Vergangenheit, ist auch hier der Krieg das patente Mittel, um die Insolvenz zu umgehen. So gesehen, würde es mich nicht mal verwundern, wenn auf den Satellitenfotos von den Kommandostützpunkten der Separatisten plötzlich der Rollstuhl von Julia Timoschenko zu erkennen wäre.

Und jetzt will der Schokoladen-Poroschenko auch noch aufrüsten, pro Jahr um 4 Milliarden Euro. Man kann davon ausgehen, dass die internationalen Finanzinstitutionen die Kreditzuzsagen für die entsprechenden Verträge mit US-amerikanischen und europäischen Rüstungsfirmen bereits unterzeichnet haben. Die Russen werden das sicher als weitere Bestätigung der vorsätzlichen Verletzung der früheren Ab­ma­chun­gen durch den Westen und die Nato sehen bezüglich der Macht- und Einflusssphären. Ich wünsche weiterhin viel Vergnügen.



Hier findest du alle Kolumnen von Albert Jörimann von 2007 bis heute.



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Albert Jörimann
26.08.2014

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